Nach der Wahl ist vor der Wahl

Von Malte Daniljuk · · 2012/12

In Venezuela hat Hugo Chávez seine vierten Präsidentenwahlen überzeugend gewonnen. Doch auch die Opposition konnte einen starken Stimmenzuwachs verbuchen. Und an strukturellen Problemen wird es dem Staatschef auch in Zukunft nicht mangeln.

In Venezuela hat Langzeit-Präsident Hugo Chávez erneut die Wahlen gewonnen. Die Opposition hatte mit Henrique Capriles Radonski einen 40-jährigen Christdemokraten aufgestellt, der für Hugo Chávez ein tatsächlicher Antipode war. Der telegene junge Mann stammt aus einer Unternehmer-Familie, die u.a. eine der großen Kinoketten kontrolliert und die größte Tageszeitung des Landes, „Últimas Noticias“, herausgibt.

Obwohl die Opposition in ihrer Kampagne stark darauf setzte, die soziale Programmatik der bolivarischen Bewegung zu kopieren und Hugo Chávez mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, stolperte sie schließlich wieder über das ungeklärte Verhältnis zur Legalität: Bis zum Wahltag ließen VertreterInnen der oppositionellen MUD („Tisch der demokratischen Einheit“) offen, ob sie die Ergebnisse anerkennen würden. Die UnterstützerInnen von Hugo Chávez befürchteten, dass die Opposition ein knappes Ergebnis anzweifeln und auf Unruhen setzen würde. Diese Konstellation mobilisierte die Bevölkerung in bisher ungekanntem Maße an die Urnen und sorgte für einen deutlichen Sieg von Hugo Chávez.

Das zentrale Merkmal dieser Wahlen war denn auch die hohe Wahlbeteiligung. Mit 15 Millionen Menschen kamen am 7. Oktober gegenüber den Präsidentschaftswahlen von 2006 3,5 Millionen WählerInnen hinzu. Damit zeigt sich deutlich, dass der bolivarische Prozess seine politische Aktivierungswirkung auf die Bevölkerung noch einmal verstärkt hat. Dieser Aspekt hat für das Selbstverständnis des bolivarischen Prozesses als legislative Bewegung eine zentrale Bedeutung.

Laut Endergebnis erhielt Hugo Chávez 55 Prozent der Stimmen und kann nun bis Ende 2019 im Amt bleiben. Auch in absoluten Zahlen hat der Chavismus mit acht Millionen Stimmen gegenüber den Wahlen im Jahr 2006 (sieben Millionen) deutlich zugelegt. In 22 von 24 Bundesstaaten stimmte die Mehrheit für den amtierenden Präsidenten, der auch in drei von fünf durch die Opposition regierten Bundesstaaten gewann. Besonders schmerzlich für Henrique Capriles dürfte sein, dass er auch im von ihm selbst regierten Bundesstaat Miranda unterlag.

Allerdings gewann auch die Opposition stark hinzu. Auf Henrique Capriles entfielen mit 6,5 Millionen Stimmen 44,13%, während sein Vorgänger Manuel Rosales nur 4,3 Millionen Stimmen (36,91%) erreicht hatte. Das Oppositionslager kann also den größeren Anteil der Wählermobilisierung für sich verbuchen.

Hugo Chávez erhält mit dem Wahlsieg eine Bestätigung für eine erfolgreiche Politik, welche die bolivarische Bewegung zudem gegen den Widerstand der traditionellen Eliten und großer Teile des Staatsapparates durchsetzen muss. In 14 Jahren hat es der Bolivarismus geschafft, das eigene politische Projekt mehrheitsfähig zu machen. Capriles und die venezolanische Rechte sind gezwungen, ihren Diskurs stark nach links zu verschieben, um überhaupt die Chance auf einen Wahlsieg zu haben. Das scheinen sie erfolgreich geschafft zu haben. Für den Chavismus ist die Zeit problemloser Siege allerdings vorbei. Zwar verfügen Hugo Chávez und die Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) über eine große Stammwählerschaft, aber relevante Teile der Mittelklasse und auch der Unterschichten stimmen für die Opposition, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden. 

Die Erfolge von Chávez können sich sehen lassen: Die Armut wurde seit 2004 insgesamt halbiert, die extreme Armut sogar um 70 auf 7 Prozent gesenkt. Seit Ende 2011 wird bei Familien in extremer Armut für Kinder (inkl. Schwangerschaft) ein monatlicher Zuschuss von umgerechnet 100 US-Dollar gezahlt. Der Analphabetismus wurde erfolgreich bekämpft, und international gehört Venezuela inzwischen zu den Ländern mit dem höchsten Anteil von Studierenden. Dieser hat sich in den letzten acht Jahren verdoppelt, das Studium ist für die meisten kostenlos.

Für Millionen von VenezolanerInnen, die früher weitgehend von medizinischer Versorgung ausgeschlossen waren, existiert heute ein kostenloses Gesundheitssystem. Für Hunderttausende auf besetztem Land errichtete Häuser wurden Eigentumstitel ausgestellt, in unzähligen Stadtteilen wurden Anschlüsse an die netzgebundenen Infrastrukturen und an städtische Dienstleistungen geschaffen. Hinzu kommen ein jährlich angehobener Mindestlohn, eine neue Arbeitsgesetzgebung und zahlreiche andere soziale Errungenschaften.

Neben diesen unmittelbar materiellen Verbesserungen basiert die Unterstützung des Präsidenten auch auf seiner Anerkennung der bisher ausgegrenzten Bevölkerungsteile, die mit Chávez erstmals in der Geschichte des Landes einen Präsidenten haben, der sich auch kulturell mit ihnen identifiziert. Gleichzeitig erlebte das Land einen intensiven Demokratisierungsprozess, der sich in fast jährlichen Wahlen und Referenden sowie in neuen Formen kommunaler und betrieblicher Mitbestimmung ausdrückt. Hinzu kommt, dass die Medienvielfalt, nicht zuletzt durch die schnelle Ausbreitung selbstverwalteter Medien, deutlich zugenommen hat.

Trotz dieser Errungenschaften genießt die Regierung keinen Vertrauensvorschuss. Die relativen Verluste bei den vergangenen Wahlen (2006 hatte Chávez noch mit 61% gewonnen) zeigen auch viel Unzufriedenheit an der Basis. In vielen Bereichen reagiert die Regierung zu spät. Eine Modernisierung der Elektrizitätsversorgung wurde erst begonnen, als das Netz im Jahr 2009 zusammenbrach. Auch das Wohnbauprogramm und Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung wurden erst in Angriff genommen, nachdem die Kritik in der Öffentlichkeit alle anderen politischen Themen von der Agenda zu verdrängen drohte.

Die größten Herausforderungen liegen jedoch in der internen Struktur des bolivarischen Prozesses. Die Versorgungslogik der Öl-Ökonomie führt vielerorts zu Korruption und Ineffizienz bzw. mangelt es dem Prozess an einer aktiven Beteiligung der Bevölkerung.

Diese Probleme sind in den Regionen unterschiedlich stark ausgeprägt und führten in der Vergangenheit dazu, dass Gouverneure der Regierungspartei bei den Regionalwahlen abgewählt wurden. Eine ernste Warnung für die PSUV für die am 16. Dezember bevorstehenden Regionalwahlen. Da die PSUV die Kandidatinnen und Kandidaten für die kommenden Regionalwahlen ernannte, anstatt sie wie bei vergangenen Wahlen durch eine Urabstimmung zu ermitteln, sind in mehreren Bundesstaaten Zweifel angebracht, ob die Basis die ihnen vorgesetzten KandidatInnen unterstützen wird.

Die bolivarische Bewegung verfügt mit diesem Wahlsieg über große legislative Entscheidungsspielräume, da sie bis zu den Parlamentswahlen im Dezember 2015 auch die einfache Mehrheit im Parlament stellt. Zudem ist die wirtschaftliche Entwicklung des Landes grundsätzlich positiv. Die Inflation befindet sich auf einem historischen Tiefstand und alle Daten wie Wachstum, Staatsverschuldung und Zinslast entwickeln sich positiv. Größtes Problem bleibt eine überbewertete Landeswährung, welche die Inlandsproduktion verteuert und Importe verbilligt, was sich ungünstig für eine alternative Binnenentwicklung auswirkt.

Hier liegt ein zentrales Problem des venezolanischen Transformationsprojektes: Bisher lebt dieser Prozess von den etwa 60 Milliarden Dollar, die der staatliche Ölkonzern PdVSA jährlich an den Haushalt abführt. Die verursachten wirtschaftlichen und politischen Ungleichgewichte – Schwächung der Binnenproduktion und Stärkung der Staatsbürokratie – bleiben jedoch strategische Blockaden für ein alternatives Gesellschaftsmodell. Zudem besteht die Gefahr, dass die schnell wachsende Mittelklasse sich zukünftig von einem Prozess abwendet, der hauptsächlich auf Armutsbekämpfung ausgerichtet ist. 

Dringlich ist auch eine Reform des Staatsapparates, die ein funktionierendes Rechts- und Sicherheitssystem schafft, das nicht nur die Gewaltkriminalität, sondern auch die Korruption eindämmt. Mit den bestehenden Strukturen ist eine Demokratisierung und Verrechtlichung kaum zu erreichen.

Schließlich muss sich aus der Landes- und Bundespolitik bis 2019 eine moralisch integre und politisch überzeugende Führungsgruppe entwickeln, die das bisher erfolgreiche Projekt nach einer Ablösung von Hugo Chávez weiterführen kann. Dies hat umso höhere Dringlichkeit, da der Gesundheitszustand des Präsidenten nach intensiven Krebstherapien im vergangenen Jahr keineswegs als unbedenklich gelten kann. 

Malte Daniljuk ist freier Journalist und Autor. Seit dem Jahr 2008 ist er Redakteur für Hintergrund und Analyse bei dem Nachrichtenportal amerika21.de. Er besucht seit 1997 regelmäßig Lateinamerika und verbrachte längere Zeit in Mexiko, Kolumbien und Venezuela.

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